Samstag, 8. November 2014
Deutsch lernen
Kann man an einer Mittelschule in China überhaupt Deutsch lernen? Immer wieder fragen mich das auch Chinesen erstaunt, wenn ich erzähle, dass ich hier Deutsch unterrichte. Deutsch lernen ist in China relativ populär, aber normalerweise an der Uni. Man lernt es nebenbei als Freifach, manche studieren es auch als Hauptfach, offenbar sogar eher zu viele. Eine junge Deutschlehrerin erzählt, dass zwei ihrer Studienkolleginnen ihr Deutsch gar nicht brauchen könnten, weil es in Xian zu wenig deutsche Firmen habe. Bei einer deutschen Firma arbeiten – das kann ein Motiv sein, um Deutsch zu lernen, Lehrer(in) sein ein anderes: „Ich liebe diese Sprache einfach“, sagt eine Kollegin. Meine Schüler nennen als Motiv das Interesse für das Land und die Kultur, die Wichtigkeit der deutschen Industrie und Technik (vor allem die deutschen Autos stehen in China hoch im Kurs), manche möchten auch gern in Deutschland studieren.

Deutsch lernen an der Mittelschule also. Meine Schule, die Xian Foreign Language School, hat Fremdsprachen als Schwerpunkt. Englisch beginnt schon in der Primarschule, in der Sekundarstufe I (7. - 9. Klasse) kommt eine zweite Fremdsprache dazu: Japanisch, Spanisch, Französisch oder Deutsch (3 oder 4 Lektionen pro Woche). Ab der 10. Klasse konzentrieren sich die Schüler wieder auf eine Fremdsprache: Englisch oder eine der genannten, die man auch dann noch neu anfangen kann (in dem Fall intensiv mit 10 Lektionen pro Woche). Diese Fremdsprache wird an der grossen nationalen Abschlussprüfung am Ende der 12. Klasse als eines von fünf Fächern geprüft.Es ist natürlich eine Minderheit, die Deutsch lernt, ebenso wie Französisch und Spanisch; am beliebtesten ist Englisch, es gilt auch als leichter - wie Japanisch, von dem man viele Zeichen schon kennt.

Fremdsprachenunterricht ist langsames, oft mühsames Bohren dicker Bretter, auch und gerade ich China, dessen Sprache in vielem so anders ist. Chinesische Schüler kämpfen vor allem mit der Aussprache von Lauten, die es in ihrer Sprache nicht gibt – manche versteht man noch nach Jahren Deutschunterricht schlecht – und natürlich mit der Grammatik: Deutsch zu lernen, wenn man in der eigenen Sprache weder Artikel noch Pluralformen, weder Deklination noch Konjugation kennt, ist harte Arbeit. Umso verwunderlicher ist es, wie schnell einzelne Schülerinnen und Schüler vorankommen – es gibt aber auch die, welche nach Jahren noch keinen geraden Satz aufs Papier, geschweige denn über die Lippen kriegen.


Moderner Unterricht: Partnerarbeit – die Lehrerin am Rand

Methodisch ist der Fremdsprachenunterricht durchaus auf der Höhe der Zeit. In Deutsch braucht man Bücher, die in Deutschland konzipiert wurden und arbeitet mit dem Goethe-Institut zusammen; die Methodik sieht zahlreiche verschiedene Aktivitäten für Hören, Lesen, Verstehen, Schreiben vor, auch Partner- und Gruppenarbeiten gibt es. Daneben sind auch ältere chinesische Methoden wie das Wiederholen im Chor und das Auswendiglernen verbreitet – in grossen Klassen die einzige Möglichkeit, damit alle üben; vor allem Englischklassen hört man häufig im Chor dem Tonband oder der Lehrerin nachsprechen. Der Nachteil dieser Methode: Schwächere Schülerinnen und Schüler können so unerkannt mitschwimmen, die Kluft zwischen Guten und Schwachen wird schnell sehr gross. Auch typisch chinesisch scheint mir, dass das Buch zentral ist: es wird vor- und rückwärts gelernt und repetiert. Was nicht im Buch vorkommt, ist im Moment interessant, wird aber nur von den Besten vielleicht memoriert.

Die Schule ist bestrebt, möglichst in jeder Sprache einen Muttersprachler für Konversationsstunden, aber auch als Auskunftsperson für die chinesischen Sprachlehrpersonen zu beschäftigen. So gibt es neben mir einen älteren Japaner, der für ein Jahr hierher gekommen ist und sich täglich selbst japanisches Essen zubereitet, weil er das Chinesische nicht vertrage (zu viel Fleisch!). Andere leben schon länger in China, sind aber neu an der Schule: ein junger Franzose, der gerade eine Chinesin geheiratet hat , ausgebildeter Ökonom, der parallel eine Dissertation schreibt; ein junger Spanier, der mit seiner Freundin hier lebt, und ein Südafrikaner, ebenfalls verheiratet mit einer Chinesin – er hält das chinesische Erziehungswesen für zu stark aufs Auswendiglernen und zu wenig aufs Denken ausgerichtet; wenn seine Kinder, die jetzt in der Primarschule sind, ins Mittelstufenalter kämen, werde er in ein anderes Land ziehen. Die Schwierigkeit mit der Konversation im Unterricht ist neben der sprachlichen Barriere eine gewisse Schüchternheit– die Hemmungen zu reden sind bei vielen gross – nicht nur im Unterricht.

Ein junger Mann spricht mich in der Warteschlange im Supermarkt an. Ob ich Amerikaner sei. Sein Englisch ist gut verständlich. Wir kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er in Xian Betriebswirtschaft studiert und vor kurzem das Studium abgeschlossen hat, seit kurzem arbeitet er. Wir sind auf der Strasse angelangt, er bedankt sich, er sei emotional sehr bewegt. Zum ersten Mal habe er einen Ausländer angesprochen – er habe sich das schon so oft gewünscht, aber nie getraut, weil er sein Englisch für zu schlecht halte – und dass daraus ein Gespräch geworden sei, mache ihn sehr glücklich.Auf der andern Seite wird man als offensichtlicher Westler auch ab und zu (in Peking und Shanghai häufig) angesprochen: „Can I talk with you? I want to practice my English.“ Kürzlich war es gar ein etwa zehnjähriger Junge, der so auf mich zu kam. Und kecke Primarschülerinnen rufen mir „Hello teacher“ zu, wenn ich über den Schulhof gehe, Oberstufenschüler auch mal „Guten Tag“.


Die Klassenzimmer werden von den Klassen mit Sujets aus Deutschland geschmückt, hier haben sie sogar die Ventilatoren in den deutschen Farben gestrichen.

Im Unterricht aber herrschen, wie gesagt, eher Schüchternheit und Hemmung vor. Dazu kommt der strukturelle Einfluss der wichtigen Abschlussprüfungen, die nur schriftlich sind. Die Gao Kao, die grosse Prüfung, die am Ende des 12. Schuljahres über die weitere Bildungslaufbahn entscheidet, fordert in der Fremdsprache Grammatik, Textverständnis und einen kleinen Aufsatz von 150 Wörtern. Das heisst: Schriftliche Übungen sind besser für die Prüfungen, also werden sie bevorzugt, so hat bezeichnenderweise die 12. Klasse keine Konversationsstunde mehr, sie muss sich auf das „Wichtige“ konzentrieren. Diese Fixierung des Sprachenlernens auf das Schriftliche gilt nicht nur für China, in Japan ist sie womöglich noch stärker. Aber man versucht jetzt immerhin etwas Gegensteuer zu geben. Die Deutschschülerinnen und -schüler in meiner Schule werden im Lauf des Unterrichts auch auf die Prüfungen des Goethe-Instituts gemäss europäischem Sprachenportfolio (A1 bis B1) vorbereitet und an diese Prüfungen geschickt, welche ihnen im Fall eines Auslandstudiums nützlich sein werden.


Mit so kleinen Gruppen wie dieser 10. Anfänger-Klasse kommt man natürlich rascher voran als mit den 25 Anfängern der 7. Klasse (oder den 40-50, die in Englischklassen sitzen) – ein Schüler hat nach ein paar Wochen zu Japanisch gewechselt, weil ihm Deutsch zu schwierig vorkam.

Sprachunterricht schliesst in China Literatur nicht ein. Selbst im Unistudium fristet diese ein Randdasein: In einer Vorlesungsstunde pro Woche erfahren Deutschstudentinnen zwar, dass es ein Nibelungenlied gibt, den Inhalt kennen sie hingegen nicht; und die Texte der Schriftsteller und Dichter gelten meist als zu schwierig. An der Mittelschule gilt das erst recht. Zwar kann es sein, dass man mit Heines „Lorelei“ die Aussprache übt, ansonsten aber sind es nur Sachtexte, die in den Lehrbüchern vorkommen. Über Land und Leute (Deutschland, Österreich und Schweiz) und die Gesellschaft erfährt man da allerdings einiges. Bei guten Schülern sind die Kenntnisse der deutschsprachigen Länder oft erstaunlich. Zwei Schülerinnen der Abschlussklasse, die seit fünf Jahren Deutschunterricht haben, rufen, als ich meine Herkunft Basel nenne, wie aus der Pistole geschossen: „Das liegt in der Dreiländerecke.“

Fremdsprachenunterricht ist, wie gesagt, das langsame Bohren dicker Bretter. Als ich nach einer zähen Lektion, wo ich gar keine Fortschritte zu erkennen meine, die Lehrerin der Klasse frage, was man ihrer Ansicht nach besser machen könne, sagt sie lachend: „Nichts - Übung macht den Meister“. Alte deutsche Tugenden passen in die chinesische Schule. Meine eigenen langsamen Fortschrittlein im Chinesischen - seine Zeichen, seine Töne und die vielen gleichklingenden Bedeutungen können einen verzweifeln lassen – stimmen mich nachsichtig gegenüber meinen Schülern.

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