Samstag, 24. Januar 2015
Entspannt unter rigider Diktatur?
Ich habe hier in Xian – wie im letzten Beitrag beschrieben - eine recht entspannte Gesellschaft kennengelernt. Wie geht das zusammen mit der Tatsache, dass China eine Einparteiendiktatur ist, welche nach der Meinung fast aller westlichen Medien die Schraube in Sachen Zensur und Unterdrückung von Kritikern in den letzten Jahren eher angezogen hat?



Ich versuche im folgenden nicht eine politische Einschätzung der jetzigen Situation zu geben. Ich möchte hier auch nicht zu einer Kritik der westlichen Berichterstattung über China ausholen – obwohl ich mich manchmal schon gewundert habe: Am Tag, nachdem ich die grosse Freiluft-Weihnachtsfeier der Katholiken besucht habe und die ganze Innenstadt von feiernden Chinesen überfüllt war, las ich im SPIEGEL, die chinesische Führung wolle Weihnachten unterdrücken. Und jetzt Ende Januar berichten die meisten deutschsprachigen Zeitungen, dass der Smog in Chinas Städten unerträglich sei - hier in Xian ist aber gerade dieses Jahr das Gegenteil der Fall: seit drei Monaten fast immer schönes Wetter, an drei Vierteln der Tage scheint die Sonne; dass es viel schöner als üblich sei, sagen hier alle – ob wegen des milden Winters oder wegen der Massnahmen gegen die Luftverschmutzung, weiss niemand. Einmal mehr gilt es die Grösse des Landes zu bedenken. Wenn in irgendeiner ostchinesischen Stadt die Weihnachtsfeierlichkeiten behindert werden, so ist das nicht China, und wenn es in Peking Smog hat, so heisst das noch nicht, dass es überall so ist.
Keine politische Einschätzung also, nur ein paar Beobachtungen aus der Froschperspektive in einem der eher ärmeren Stadtteile einer chinesischen Grossstadt.

Beobachtung 1: Das chinesische Regime mischt sich wenig ins Alltagsleben der Bevölkerung ein. Alle Chinesinnen und Chinesen, die ich danach gefragt habe, sagten, sie fühlten sich frei in ihrer Lebensgestaltung; und das ist den meisten jüngeren Menschen wichtig.„Ich betätige mich ja nicht politisch“, fügt eine Kollegin hinzu. Und das wollen die wenigsten. 80% der Leute interessierten sich nicht für Politik, meint sie, und die restlichen sind zwar da und dort skeptisch, aber sie wollen oder können sich nicht grundsätzlich oppositionell engagieren. Es gibt keine Plattform dafür und keine Tradition: Gesellschaftliche Organisation ausserhalb staatlicher Strukturen hat es in China nie gegeben, mit Ausnahme periodisch aufflackernder Geheimgesellschaften, die oft mit Unruhen in Verbindung gebracht werden und daher nicht positiv konnotiert sind.



Trittsicherer Löwe – zwei Akrobaten bewegen sich virtuos auf Säulen, um Kunden für ein Geschäft anzulocken

Beobachtung 2: Teilpolitiken (Baupolitik, Umweltpolitik) werden durchaus kontrovers diskutiert. Man darf einfach den Kaiser - die Partei(herrschaft) – nicht kritisieren und infrage stellen. Man ist es im übrigen seit Jahrtausenden gewohnt, gewisse Dinge hinzunehmen. Typisch die Bemerkung einer jungen Kollegin zu den Forderungen der Studenten in Hongkong nach offener demokratischer Wahl des Stadtchefs: Sie sei einverstanden, finde es aber nicht so wichtig; schliesslich würden die Hongkonger am Ende so oder so einen Chef haben, und sie könnten ja leben, wie sie wollen.
Natürlich, es gibt gute und schlechte Kaiser: In einer Klasse, mit der ich das bespreche, sind die Meinungen einhellig: Mao sehen sie nicht positiv, vor allem die Kulturrevolution nicht, Deng Xiao Ping hingegen geniesst einen sehr guten Ruf, und der aktuelle Staats- und Parteichef Xi Jinping ist äusserst beliebt. Schon nach zwei Jahren im Amt wird er von den Schülern mit seinem Spitznamen Onkel Xi bezeichnet. Seine Antikorruptionskampagne ebenso wie die neuen wirtschaftlichen Ziele inklusive Umweltschutz werden von allen Gesprächspartnern einhellig als positiv gewertet; es wird ihm ernsthaftes Engagement für die Bevölkerung attestiert.

Beobachtung 3: Überhaupt wird von vielen gewürdigt, dass die Behörden Anstrengungen für das Allgemeinwohl unternähmen, gerade zum Beispiel im Bereich der viel kritisierten Luftverschmutzung. Das Allgemeinwohl ist wichtiger als individuelle Menschenrechte. Dass einzelne unterdrückt, dass Meinungen zensuriert werden, ist für viele eine Nebensache. Wenn man danach fragt, so sagen die einen, sie vertrauten der Regierung, dass sie das Richtige mache, die andern meinen, sie seien wohl dagegen – aber sie könnten ja eh nichts dagegen machen, also regten sie sich lieber nicht auf.



Frau führt ihre zwei Hähne mit einem Kinderwagen im Park spazieren

Solche Haltungen trifft man auch bei Leuten, die sich durchaus individualistisch am Rand der Gesellschaft sehen. Ich möchte deshalb als letzte Beobachtung zwei solche jungen Menschen, die ich etwas näher kennenlernte, kurz beschreiben. Es geht dabei nicht mehr direkt um das Titel-Thema – indirekt aber sehr wohl.

Im einzigen italienischen Restaurant in Xian, wo man eine essbare Pizza bekommt, serviert chinesisches Personal. Auch die Gäste sind hauptsächlich Chinesen. Während alle vor und zwischen dem Essen auf ihre iPhones starren, lese ich in einem Gedichtband. Die junge Bedienung interessiert sich, was ich lese und ist ganz entzückt, dass ich Gedichte von Li Bai lese, einem der berühmtesten chinesischen Dichter aus der Tang-Zeit (8.Jh.). Den liebe sie sehr, er sei – ihr Englischwortschatz ist sehr knapp bemessen – so „talented“. Sie empfiehlt mir andere Dichter, alle mehr als tausend Jahre alt. Auf die Frage, ob sie diese Dichter aus der Schule kenne, antwortet sie: „Alle Chinesen kennen sie.“

Dass Jie, die junge Frau Mitte zwanzig, nicht ganz repräsentativ für die heutige chinesische Jugend sein dürfte, stellt sich heraus, als wir bei meinen nächsten Besuchen weiter ins Gespräch kommen. Immer interessiert es sie, was ich lese. Sie habe Biotechnik studiert, aber die Arbeit am Computer habe ihr nicht gefallen; die Arbeitskolleginnen hätten sich nur fürs Geldverdienen interessiert und wie sie zu einem wohlhabenden Mann kämen, aber keine Bücher gelesen. Deshalb arbeite sie lieber hier im Service Teilzeit – da könne sie wenigstens ihr Englisch verbessern, weil viele Ausländer hier verkehren, und sie habe so genügend Zeit zum Lesen. Nach einer unglücklichen Jugend als drittes, nicht erwünschtes Kind der Familie, habe sie eines Tages die Bücher lieben gelernt, in denen sie nach dem Sinn des Lebens suche.
Sie lese auch deutsche Schriftsteller in chinesischer Übersetzung, erzählt Li einmal und schreibt mir die Namen auf einen Zettel: Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Wilhelm Nietzsche. Goethes Faust sei interessant, ob ich ihr weitere Bücher des 18. und 19. Jahrhunderts empfehlen könne. Sofort gibt sie die Schriftstellernamen hinter der Theke ein, um Übersetzungen zu suchen; leider habe sie nur Schiller gefunden, die andern nicht; der sei doch ein gutaussehender Mann, der früh gestorben und mit Goethe befreundet gewesen sei. Sie erbittet Ratschläge zum Lesen. Bei etlichen von mir empfohlenen Romanen – „the bigger the better“, meint sie – winkt sie allerdings ab: Tolstoi (Krieg und Frieden, Anna Karenina) kenne sie schon, bei Dostojewski sei sie grad an den Brüdern Karamasov.

Li arbeitet als Kellnerin, auch wenn das wenig Ansehen habe und man relativ wenig verdiene und die Eltern das missbilligten. Ihr Ziel – so erläutert sie in weiteren Gesprächen - sei ein ganz einfaches, unauffälliges Leben: wenig scheinen, viel sein - nach dem Vorbild einer Figur aus einem französischen Film bzw. Roman. Am Ende des Lebens möchte sie sich nicht sagen müssen, das Wichtigste verpasst zu haben. Sie schwärmt von europäischer Literatur und chinesischer Philosophie der Antike (Zhuangzi). Überhaupt ist ihr China wichtig, ins Ausland zu gehen, reizt sie nicht. Politik interessiert sie nicht, weder chinesische noch internationale. Nur Literatur, Philosophie und Geschichte.



In diesem Punkt unterscheidet sie sich von ihrem Kollegen und Freund Luo, der ihr sonst in vielem ähnlich ist. Ich habe die beiden zweimal zum Mittagessen in ein Restaurant eingeladen und mich mit ihnen unterhalten. Luo, der gut Englisch kann, fällt auf mit seinen langen, zu einem Rossschwanz gebundenen Haaren, was hier noch seltener ist als in Europa – das eben sei ein Stück seiner Freiheit, meint er schmunzelnd. Er lese Zeitung und informiere sich, ohne sich beteiligen zu wollen. Studierter Psychologe, arbeitet auch er als Kellner, weil ihm das viel Freiheit lasse – die Psychologie habe ihn eigentlich nur interessiert, um seine persönlichen Probleme zu verstehen, jetzt fände er sie langweilig. Wichtig ist ihm, so zu leben, wie er will – während des Studiums habe er Magengeschwüre gehabt, jetzt gehe es ihm gut. Was nachher komme – in China ist es nicht üblich, länger als bis dreissig im Service zu arbeiten – lasse er auf sich zukommen; man werde sehen, was es werde. Er kann sich auch vorstellen in Europa Philosophie zu studieren, wenn sich die Möglichkeit ergäbe.

Luo sieht die chinesische Entwicklung kritisch, überraschenderweise aus marxistischer Sicht. Er habe Marx mit Interesse gelesen und glaubt, niemand aus der Führung habe ihn gelesen oder verstanden. Die Diskrepanz zwischen der kommunistischen Etikette und der kapitalistischen Politik sei problematisch, zumal die Unterschiede zwischen Arm und Reich zunähmen. Das werde früher oder später zu Umwälzungen führen müssen; wann und wie, ob gewaltsame oder friedliche Revolution, das wisse er nicht. Er ist nicht politisch aktiv, würde sich aber auf die Seite einer solchen Revolution stellen. Er hält die sozialen Gegensätze für das wichtigere Problem von China als die fehlende Meinungs- und Pressefreiheit. Es sei ohnehin schwierig, zu urteilen und die Wahrheit zu erkennen. Es mache ihm schon so grosse Schwierigkeiten, vergangene Ereignisse wie Maos Politik oder das Tienanmen-Massaker von 1989 zu beurteilen, würden doch zum Beispiel seine Eltern und Grosseltern viel positiver über die 1960er Jahre berichten, als sie heute dargestellt würden. Es heisse etwa, es seien Millionen während des Grossen Sprungs nach vorn verhungert, aber niemand aus seiner Verwandtschaft habe so etwas beobachtet oder jemand gekannt, der verhungert sei. Was solle er da glauben? Deshalb freut er sich fast ein bisschen auf die seiner Ansicht nach kommende Revolution: so etwas selbst zu erleben, müsse interessant sein.

Für beide ist die Gestaltung ihres Lebens das Wichtigste; und sie fühlen sich darin nicht eingeschränkt in China – ausser ein Stück weit von ihren Eltern, zu denen sie aber auf Distanz gehen und von denen sie sich nichts sagen lassen. Deshalb denken sie auch nicht daran wegzugehen. Verschiedene Gegenden Chinas zu sehen hingegen ist Luo wichtig. Deshalb ist er im Sommer aus seiner Heimatstadt Shanghai nach Xian gekommen – er wollte den Norden kennenlernen. Ihre postmaterialistische Haltung, meinen die beiden, sei allerdings die Haltung einer Minderheit der chinesischen Jugend – sie halten sich in keiner Weise für repräsentativ, sie wollen es auch nicht sein.



Dies ist der letzte Eintrag. In ein paar Tagen reise ich nach Hause. An den Schluss möchte ich ein Bild der älteren Dame setzen, die jeden Tag ganz für sich allein in unserem Hof singt und tanzt, mit den Nachbarn plaudert und mich immer fröhlich grüsst.

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