Samstag, 10. Januar 2015
Eine erstaunlich gelassene Gesellschaft
Mein China-Aufenthalt neigt sich dem Ende zu – Zeit, ein paar Erfahrungen zusammenzufassen. Hier ein paar Überlegungen zur Gesellschaft. Was für eine Gesellschaft erlebt man, wenn man ein halbes Jahr in einer typischen chinesischen Grossstadt – und das ist Xian – lebt?
Mein Eindruck: eine erstaunlich gelassene Gesellschaft. Erstaunlich deshalb, weil China sich in einer ungeheuren Transformation befindet, die sich zudem in vergleichsweise enormem Tempo vollzieht (ein grosser Teil der Bevölkerung von Xian z. B., das sieht und spürt man, wohnt noch nicht lange in der Stadt). Und doch erlebt man im Alltag wenig Konflikte, kaum Aggressivität. Man hat den Eindruck, da arbeite eine Gesellschaft teils zielstrebig und geschäftig, teils eher gemächlich daran, weiterzukommen, und viele scheinen den neuen, oft bescheidenen Wohlstand zu geniessen. Sie fühlen sich wenig eingeschränkt im täglichen Leben; wo Vorschriften als lästig erlebt werden, werden sie auch mal ignoriert (Verkehr, Rauchverbot), sonst ergibt man sich gelassen ins Unvermeidliche: dass seit den Terroranschlägen uiguischer Separatisten vor zwei Jahren jede Tasche in jeder U-Bahn-Station durch den Security-Scan muss – ist halt so.

Einschränkend ist freilich festzuhalten: Was ich erlebt habe, ist nicht „die“ chinesische Gesellschaft, wenn es denn so etwas überhaupt gibt. Ich habe eine Stadt in einem riesigen und vielfältigen Land erlebt, und ich habe ein paar Menschen von mehr als einer Milliarde kennengelernt – darunter weder die ärmsten noch die reichen, niemand aus der bestimmenden politischen Elite. Es ist ein Blick aus einer sehr eingeschränkten Perspektive, angereichert durch Lektüre.

Wo steht diese Gesellschaft im Modernisierungsprozess? Wie stark ist die konfuzianische Prägung noch? Ist die Gesellschaft auf dem Weg zur Individualisierung und damit auch ein Stück weit zur Verwestlichung? Oder bildet sich hier eine neue, chinesische Spielart der Moderne heraus? Mit diesen Fragen beschäftigen sich unzählige Bücher. Meine beschränkten Beobachtungen ergeben – natürlich – keine klare Antwort; je mehr Einblick man hat, desto mehr verschwimmen die Konturen.

Ausgangspunkt war die traditionelle konfuzianische Gesellschaft, die der Kommunismus nur teilweise verändert, aber nicht grundlegend umgeprägt hat. Die gesellschaftliche Textur war immer kollektiv, die Rechte des Einzelnen spielten immer eine untergeord-nete Rolle. Das heisst nicht, dass die Chinesen Herdenmenschen (gewesen) wären; die Psyche des Einzelnen war häufig durch den Daoismus geprägt, der durchaus Spielräume bietet: Wenn man z. B. die allseits verehrten Dichter der Tang-Dynastie liest – die vor weit mehr als tausend Jahren häufig in der damaligen Hauptstadt hier in Xian lebten -, kann man einen Grad von Individualisierung ausmachen, der die in unseren Gegenden damals bekannte Bandbreite weit überschreitet.

Die grundlegenden menschlichen Beziehungen, welche Konfuzius in der Unterordnung der Untertanen unter den Herrscher, der Frau unter den Mann und der Kinder unter die Eltern sah, waren seit der Revolution unterschiedlichen Veränderungen unterworfen. Während im politischen Bereich sozusagen einfach der Kaiser durch die Partei ersetzt wurde, erklärte eines der ersten Gesetze 1949 die Gleichberechtigung der Frau. In diesem Bereich sind denn wohl auch die grössten Veränderungen sichtbar. Frauen bewegen sich selbstbewusst allein auf den Strassen, auch nachts. Frauen verdienen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn, arbeiten allerdings oft weniger und weniger in hohen Positionen, ein auch bei uns bekanntes Phänomen. Junge Frauen wollen auch nach der Heirat selbstverständlich arbeiten - auch die junge Lehramts-Praktikantin, mit der ich chinesische bzw. deutsche Aussprache übe, die sonst viel auf die Wünsche ihrer Eltern gibt; sie wolle doch nicht finanziell vom Mann abhängig sein.

Hochzeitsfest 2014

Beim Thema Heirat zeigen sich wohl die Veränderungen und die Bruchlinien der gesellschaftlichen Transformation am stärksten. Im Grundsatz sind die arrangierten Ehen vorbei und die Partnerwahl ebenso wie die Lebensführung dem einzelnen überlassen. Die Hochzeit – ich war an eine eingeladen - wird im westlich, hauptsächlich amerika-nisch inspirierten Stil gefeiert mit einem grossen Essen, in welches die Zeremonie ein-gebettet ist; dass in meinem Fall mehr als vierhundert Menschen aus den beiden Fami-lien eingeladen wurden, verweist auf die immer noch starke Einbettung in die Sippe.


Heiratsmarkt im Park

Dass eine Hochzeit überhaupt stattfindet, dafür gibt es allerdings grossen Druck, dem sich kaum jemand entziehen kann. Wenn der Sohn oder die Tochter Ende Zwanzig noch nicht verheiratet sind, werden nicht selten die Eltern aktiv auf dem Heiratsmarkt, not-falls wortwörtlich: Am Wochenende gibt es – wie im Volkspark Shanghai, nur nicht ganz so gross – auch in einem Park in Xian einen Heiratsmarkt. Besorgte Eltern suchen dort Ehepartner für ihr noch nicht verheirateten Kinder. Auf A-4-Blättern, an Seilen und an Hecken aufgehängt, sind die wichtigsten Daten aufgelistet: Alter, Grösse, Ausbildung, Arbeit, manchmal Gewicht und Einkommen. Fotos hat es praktisch nie, es geht hier um die harten Fakten. Die Kontakthandynummer wird weiteres klären können – es ist eh nicht anzunehmen, dass die Betreffenden heute noch den Eltern einfach folgen, schliess-lich ist die Zwangsverheiratung seit der kommunistischen Revolution verboten. Das Interesse ist gross: Hunderte meist ältere Menschen sind hier am Sonntag Nachmittag und studieren das Angebot, in welchem die 1980er Jahrgänge dominieren, also die Endzwanziger, Anfangdreissiger; teilweise deuten zahlreiche gleich gestaltete Blätter auf professionelle Vermittler, die sich hier auch tummeln.



Über die Erfolgsquote solcher Unternehmungen ist nichts bekannt. Anderseits nehmen die Scheidungen stark zu in China - das ist wieder ein Hinweis auf die zunehmende Individualisierung, die traditionelle (konfuzianische) Loyalitäten aushebelt. Bemerkbar macht diese sich natürlich vor allem im Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern. War in der traditionellen Gesellschaft ein adoleszentes Ringen um Selbstbestimmung, wie es die abendländische Kultur seit Jahrhunderten prägt, kein Thema, und ein Generationenkonflikt undenkbar, so haben die Ein-Kind-Politik (die in den letzten Jahren gerade gelo-ckert wurde) und der wirtschaftlich-gesellschaftliche Wandel in den letzten Jahrzehnten gegenläufige Spuren hinterlassen.
So sagt ein 16-jähriger in der Deutschstunde: „Mein Traum ist, ein unkonventioneller Jugendlicher zu sein“ (keine Ahnung, wo er das Wort aufgeschnappt hat). Warum? Weil es cool sei. Einzelne Schüler/innen, meist Knaben tragen demonstrativ die Schuluniform nicht - auch wenn einer dafür eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen wird: anschliessend trägt er sie in einer Tasche mit, er habe sie ja dabei. Aber die Ansichten überkreuzen sich: ebendieser Schüler, der wegen einer Freundschaft zu einer älteren Frau mit seinen Eltern über Kreuz ist, denkt gleichzeitig in Beziehungsfragen traditionalistisch und lehnt unverheiratetes Zusammenleben als un-moralisch ab, während ein Mitschüler darin kein Problem sieht, dafür im Gegensatz zu den andern die Ein-Kind-Familie als sinnvoll für China verteidigt,. In diesem Mischmasch der Ansichten kann man durchaus eine echte Individualisierung sehen.



Natürlich gibt es auch hier verschiedene Szenen. „China today“ stellte im November 2014 die Wenyiqingnian (wörtl. Kultur- und Kunst-Jugend) vor, eine städtische Jugend „auf Identitätssuche zwischen Globalisierung und Individualität“. Sie zeichne sich aus durch Interesse für europäische Arthouse-Filme, Gedichte und Songtexte, Musik, Thea-ter, optisch durch Converse-Schuhe und Vintagelook. Kunst und Kultur dienten ihr als Gegenprogramm zur Kommerzialisierung. Sie lässt sich nieder in ruhigen Gassen („Stubenhocker“ nennt man sie auch), die „in“ werden und dann wieder von der Kommerzialisierung bedroht sind. Die Autorin folgert, „dass in China im Zusammenstoss mit der Globalisierung etwas Neues entstanden sein muss, etwas eigenes, das nicht nur Kopie oder Abklatsch der Kultur der Industrienationen ist“.

Symptomatisch ist sicher, dass in der nationalen „Maturprüfung“, der Gaokao, 2013 das Thema des Deutsch-Aufsatzes lautete: „Wir wollen nicht so sein wie unsere Eltern.“ Da ist vom Generationenkonflikt die Rede, der erläutert werden soll. Die Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse, mit denen ich darüber rede, meinen, es sei nicht so arg bei ihnen; die eine sagt, sie habe vor ein paar Jahren viel mehr mit ihrer Mutter gestritten als jetzt. Die relativ junge Lehrerin hingegen sagt, sie selbst verstehe ihre Eltern nicht, die trotz genug Geld immer sparten und ihr Leben dafür aufopferten, ihr Enkelkind zu hüten – sie möchte das nicht so machen.

Auf der andern Seite kommt Antje Haag, deutsche Psychoanalytikerin mit langjähriger China-Erfahrung, in ihrem „Versuch über die moderne Seele Chinas“ (2013) zum Schluss, dass alle die enormen gesellschaftlichen Umwälzungen „dem konfuzianisch durchtränkten kulturellen Mutterboden nur wenig anhaben konnten“. Tatsächlich sind für die meisten Jugendlichen die Meinungen und Wünsche der Eltern sehr wichtig und bis mindestens zum Ende der Mittelschule bleiben sie kindlicher als bei uns, wohlbehütet, mit weniger Selbständigkeit – meinem Eindruck nach vor allem die Mädchen. Die biedere Unbeschwertheit der chinesischen (oder der hier sehr populären koreanischen) Popmusik drückt diese Befindlichkeit gar nicht so schlecht aus.


Am gleichen Strick ziehen, aber nicht in die gleiche Richtung: Hotelcrew beim Spass nach dem täglichen „Appell“

Sind die jungen Chinesen zum grossen Teil angepasste, denkfaule Wohlstandsprofiteure, wie mein südafrikanischer Kollege wettert, oder auf dem Weg, eine ganz eigene, mit dem konfuzianischen Gemeinschaftssinn verknüpfte Individualität zu entwickeln? Es gibt beide Tendenzen. Das traditionelle chinesische Selbst konnte sich in einer hierarchischen Gesellschaft beweglich verschiedenen Ansprüchen anpassen – so wie die chinesischen Schriftzeichen erst in Beziehung zu den andern Schriftzeichen ihren Sinn offenbaren. Wenn die jungen Chinesinnen und Chinesen diese Beweglichkeit im Zug der Modernisierung mit der Individualisierung verbinden lernen, dann kann vielleicht tatsächlich eine chinesisch geprägte moderne Gesellschaft entstehen, dann sind die Chinesen vielleicht als in besonderer Weise „flexible Menschen“ (R. Sennet) bestens gerüstet für die kommende Phase der Modernisierung. Das allerdings ist keine Erfahrung mehr, das ist Spekulation.

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