Mittwoch, 17. September 2014
Maos Mausoleum
An einem Regentag morgens um halb acht habe ich mir weniger Andrang erhofft. Bereits sind Tausende auf dem riesigen Platz, und die meisten wollen wie ich das Mao-Mausoleum sehen.

Der Tienanmen, der Platz des Himmlischen Friedens, benannt nach dem Südtor zur Verbotenen Stadt, an dessen Front Maos Portrait hängt, ist seit bald hundert Jahren das politische Zentrum Chinas – seit Studenten hier 1919 demonstrierten und damit die Bewegung des 4. Mai lostraten, die erste moderne Massenbewegung Chinas. Der Anlass: China, das seit 1840 von den imperialistischen Mächten Mal für Mal gedemütigt worden war, hatte sich von den Nachkriegsverhandlungen in Versailles eine Besserstellung erhofft. Als klar wurde, dass das nicht der Fall war, kam es zu den Protesten der Studenten: Sie protestierten gegen die Haltung der Regierung, die in den Verhandlungen in Versailles akzeptierte, dass China weiterhin in der Rolle einer Halbkolonie verblieb und gar Japans Expansionsgelüsten entgegenkam, und sie forderten eine Erneuerung der Kultur.
Dreissig Jahre später rief Mao nach dem Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg hier die Volksrepublik China aus und stellte damit die Souveränität und Einheit Chinas nach einem Jahrhundert der Demütigung und des Zerfalls wieder her. In der Folge liess er den Platz zur heutigen monumentalen Grösse erweitern für Massenaufmärsche und Paraden – er soll der grösste Platz der Welt sein. Hier versammelten sich Mitte der 1960er Jahre hunderttausende von fanatisierten Jugendlichen und jubelten, sein Rotes Büchlein schwenkend, ihrem Idol Mao zu und wünschten ihm in Sprechchören ein zehntausendjähriges Leben. Hier legten aber auch zehn Jahre später Tausende Blumen am Denkmal der Volkshelden nieder zum Gedenken an den Tod von Chou Enlai, des populären und pragmatischen Ministerpräsidenten während der ganzen Maozeit; sie leiteten damit den Sturz der maoistischen Viererbande und den Aufstieg von Deng Xiao Ping ein, dem grossen Reformer des modernen China. Und hier wiederum begann mit Blumen für den verstorbenen liberalen Parteichef Hu Yaobang Ende der 1980er Jahre die Studentenbewegung für mehr Freiheit und Demokratie, die in eine wochenlange Besetzung des Platzes mündete, welche nach einem Machtkampf in der Führung schliesslich im Juni 1989 mit Dengs Billigung mit dem weltweit für Empörung sorgenden Massaker der Armee beendet wurde ( Peter G. Achten hat dazu einen sehr informativen Artikel zum 25. Jahrestag geschrieben auf www.infosperber.ch/Artikel/FreiheitRecht/China-Tienanmen-Volksaufstand-25Jahrestag).


Tor de Himmlischen Friedens

Seither wurde der Zugang zum Platz zunehmend eingeschränkt und kontrolliert. Freiheit und nationale Selbstbehauptung, radikale Revolution und demokratische Reformen markieren seine Geschichte. Die Bewegung des 4. Mai wird heute noch hochgehalten, die Kulturrevolution gilt heute als Fehlentwicklung und als Fehler von Mao, die folgenden basisdemokratischen Bewegungen spielen keine grosse Rolle mehr in der von der Führung kontrollierten nationalen Erinnerung; das Tienanmen-Massaker wird gänzlich totgeschwiegen, viele Chinesen wissen 25 Jahre danach nichts davon. Die Ausrufung der Volksrepublik 1949 steht heute ganz im Zentrum des heutigen Platzes: Darum hängt heute noch Maos Porträt über dem Tor des Himmlischen Friedens und der Hauptteil des Platzes wird eingenommen vom Mausoleum, in welchem Mao Ze Dong einbalsamiert ruht, und den Menschenschlangen, die täglich Schlange stehen, um an ihm vorbeizudefilieren und einen kurzen Blick auf seinen konservierten Leichnam zu werfen.



Wenn man den Sicherheitscheck passiert hat, den es seit den Anschlägen uigurischer Separatisten vor ein paar Jahren gibt, passiert hat und wenn man auf dem Platz ankommt, merkt man: Die Hälfte ist verstellt von umfangreichen Absperranlagen, die einen Weg definieren, welcher die Volksmassen ordnet und einen reibungslosen Ablauf garantieren soll. In zügigem Wandertempo geht es anfangs in einer Art Kontermarsch durch den schlangenförmig angelegten Parcours, hin und her, dann verlangsamt sich das Tempo, die Kolonne stockt, und wenn man meint, man sei jetzt dann bei der Treppe, merkt man, dass der Weg zuerst noch um das halbe Gebäude herum und wieder zurück geführt ist. Wärterinnen und Wärter, mit Megaphon und Schirm bewaffnet, überwachen das korrekte Vorgehen, die einen eher lockerégère, die andern grimmig, die dritten, gleichgültig – dass bei einem Vorfall schnell andere Sicherheitskräfte zur Stelle wären, ist spürbar. Die bunte Menge – ein Querschnitt durch das chinesische Volk, wenig Alte, viele Junge, zahlreiche Kinder – ist gelöst, ruhig, trotz des leichten Regens, manchmal wird etwas gedrängelt, keine Unmutsbekundungen, auch als die Kolonne eine Viertelstunde stillsteht. So mag sich die chinesische Führung ihr Volk erhoffen. Was erhoffen sich die Wartenden?

Am Ende dauert das Schlangestehen eineinhalb Stunden. Dann geht es plötzlich wieder schneller, ein zweiter Sicherheitscheck (der Eintritt ist gratis, wenn man eine gültige Identitätskarte vorweist, die wird aber nur flüchtig oder gar nicht kontrolliert), und schon ist man auf der Treppe. Von jetzt an wird man zu zügigem Voranschreiten aufgefordert. In der ersten Halle inmitten von künstlichem Grün, davor frische weisse Chrysanthemensträusse, die man vor dem Aufgang kaufen kann, Mao in Marmor, etwa in doppelter Lebensgrösse in Onkelpose sitzend, wie man ihn von zahlreichen Gemälden kennt. Dann der Hauptraum, wo im Glassarg, der wiederum von einer grösseren Glashülle geschützt ist, der konservierte Leichnam liegt. Da ruht er in himmlischem Frieden, pfirsichfarben geschminkt wie eine Figur aus der Pekingoper – ausserhalb der Öffnungzeiten wird der Sarg angeblich in einen Kühlraum hinuntergefahren. Die Menschen eilen vorbei. Die Gesichter verraten nicht viel, Befriedigung vielleicht - man ist nach der langen Warterei froh, dass man durch ist. Sie habe nichts empfunden, sagt eine junge Frau aus der Nachbarprovinz, ihre Eltern aber hätten geweint.

Mausoleum

Wie soll man dieses in westlichen Augen skurrile Phänomen erklären? Das Regime brauche Mao zur Legitimation, wird im Westen in der Regel argumentiert. Das ist wohl richtig, aber warum in dieser Form? Und wie wäre dann zu erklären, dass so viele Chinesen hier Schlange stehen? Und dass, als die politische Führung 2012 – so heisst es - die Aufhebung des Mausoleums diskutierte, eine Welle der Empörung sie dazu brachte, die Idee fallen zu lassen?

Der Tiananmen-Platz mitsamt dem Mao-Mausoleum verkörpert die aktuelle Situation von China immer noch, vielleicht mehr denn je: die eines Reiches, das in ähnlicher Form wie seit Jahrtausenden regiert wird, nur die Hülle ist sogenannt kommunistisch. Es waren ja die sowjetischen Kommunisten unter Stalin, die mit der Einbalsamierung Lenins und seiner Zurschaustellung auf dem Roten Platz als erste moderne Machthaber diese eigenartige Totenehrung im 20. Jahrhundert begründet haben. China als zweite kommunistische Macht folgte nach dem Tod Maos 1976 dem Beispiel. Gleichzeitig folgte es der chinesischen Tradition, den Herrschern und insbesondere den Gründern von Dynastien riesige Grabmäler zu errichten – verglichen mit der unterirdischen Terracotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qin sShihuang nimmt sich Maos Mausoleum geradezu bescheiden aus, kommunistisch sozusagen.

Denn wie jener Herrscher China geeinigt und damit eine mehr als zweitausendjährige Tradition begründet hatte – er wurde dafür von Mao bewundert, auch wenn er wegen Bücherverbrennungen und grausamer Brutalität in der chinesischen Geschichtsschreibung nicht sehr gut wegkommt -, so hat Mao das Reich aus der Demütigung von Fremdherrschaft und Zerfall befreit , eine 38-jährige Zeit innerer Kämpfe beendet und eine Art neue Dynastie gegründet. Sicher hatte er auch die Idee, eine kommunistische Gesellschaft der Gleichen zu errichten, aber er war sich auch selbst immer der Tradition bewusst, in der er stand. Auf dem Weg nach Peking 1949, als der Sieg der Kommunisten absehbar war, las er nicht Lenin, sondern tausendjährige Schriften über die Herrschaft. Selbstherrlich und rücksichtslos wie ein Kaiser regierte er das Land.

Nachdem die abrupten Wendungen seiner Herrschaft von Deng Xiao Ping immer mehr einer zielstrebigen Entwicklung und Wiederaufrichtung der Grösse Chinas Platz gemacht hatten, wurde immer deutlicher, dass die KPCh eine Art neue Dynastie war. Die Macht wird zwar nicht vererbt, sondern in einem undurchsichtigen, aber mittlerweile rationalisierten Verfahren für jeweils zehn Jahre an ein Führungsduo aus Partei- und Staatschef sowie Ministerpräsident weitergegeben – 2012 fand bereits der dritte solche Wechsel ohne grosse Nebengeräusche statt. Wie im Kaiserreich von der gebildeten konfuzianischen Beamtenschaft wird das Reich faktisch von einer Elite regiert, die sich den Zugang zur Macht formell über die Parteizugehörigkeit, aber auch über intensive Bildung (die Partei führt eigene grosse Kaderbildungsstätten) verschafft – nur ist diese Bildung nicht mehr literarisch wie bei den Konfuzianern (und auch noch bei Mao), sondern mehr ökonomisch, politisch, technisch; ausgebildete Ingenieure überwiegen in der obersten Führung. Indem sie 2004 den seit 1911 verfallenen und umgenutzen Tempel der Alten Kaiser, in welchem seit Jahrhunderten über 200 ehemalige Kaiser und hohe Beamte verehrt wurden, wiedererrichten restaurieren und rekonstruieren liess, stellte die Führung sich selbst in diese Kontiunität der chinesischen Geschchte. Eine neue Dynastie, aber immer noch in kommunistischer Hülle, auch wenn ihre Politik mit Kommunismus wenig mehr zu tun hat.



Im Tempel der Alten Kaiser in Beijing

Das wird auch deutlich im monumentalen Nationalmuseum auf der östlichen Seite des Platzes. Im Untergeschoss gibt es eine grosse, eindrückliche Ausstellung über die vier- bis fünftausendjährige Geschichte Chinas bis zum Fall des Kaiserreichs, ausgewogen kommentiert, schön ausgestellt, modernes Design, moderne Technik, State oft the Art. Die Ausstellung im 1. Stock über die Erneuerung und die Wiederauferstehung Chinas hingegen ist muffig und verstaubt, in heroisierendem Stil dekoriert, mit schlechten Fotoreproduktionen und Historienmalerei im Stil des sog. Sozialistischen Realismus illustriert. Abgestandene marxistische Floskeln statt Darstellung, man geht über Linoleum statt über Marmor und fühlt sich um Jahrzehnte zurückversetzt. Während unten exquisite Vasen aus früheren Epochen ausgestellt werden, trifft man hier auf eine kitschige Porzellankutsche – ein Geschenk von Putin an den vorherigen Staatschef Hu Jintao. Die Fallhöhe zwischen alter und gegenwärtiger Kultur ist hier sehr gross. Die Ausstellung hätte eine Erneuerung dringend nötig.

Mao selbst indes ist, auch wenn seine tatsächliche oder vielleicht auch nur angebliche leibliche Hülle immer noch im Mausoleum gezeigt wird, längst der politischen Sphäre entrückt – sein Portrait ziert, Ironie des Schicksals, die chinesischen Geldscheine und baumelt in Medaillons als Talisman an den Rückspiegeln von Taxi- und Busfahrern, eine Art Buddha.

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