Samstag, 22. November 2014
Um- und Neubau der Stadt

Blick aus meinem Fenster: Im Vordergrund ältere, dahinter neue Bauten (vorne rechts ein Wohnblock wie der, in dem ich wohne)

Die chinesischen Städte werden in raschem Tempo um- und neugebaut, hauptsächlich in die Höhe. Die Hälfte der Häuser der 22-Millionen-Stadt Shanghai stamme aus den letzten zehn Jahren, heisst es. In Xian geht es nicht ganz so rasant, aber überall wird auch hier gebaut. China, wo immer noch gut die Hälfte der riesigen Bevölkerung auf dem Land wohnt, ist durch die wirtschaftliche Entwicklung in einem starken Urbanisierungsprozess begriffen. Von 2010-25 werden über 300 Mio. Menschen – das entspricht etwa der Bevölkerung der USA - in die Städte ziehen, rechnet man. Dafür wird gebaut wie wild, in den Städten und am Rand der Städte.
Unzählige Hochhäuser sind im Bau in Xian: Am Rand der Stadt wachsen die Quartiere, es entstehen aber auch einzelne Satellitenstädte recht weit entfernt vom Zentrum. Auch Universitäten – es gibt in Xian etwa hundert Hochschulen - verlagern zum Teil ihren Campus aufs Land, weil sie in der Stadt zu wenig Platz haben: Etwa eine Busstunde südlich der Stadt, am Rand der Berge, stehen zahlreiche grosse neue Universitätsbauten, z. T. mit Studentenwohnhäusern. Die Busse dahin sind morgens und abends proppenvoll.

Sehr verdichtetes Bauen

Viele der neuen Wohnhochhäuseram Stadtrand stehen leer; der Bedarf ist zwar mittelfristig sicher gegeben, aber viele Chinesen können sich den Preis einer neuen Wohnung nicht leisten. Es ist deshalb immer wieder von einer drohenden Immobilienblase die Rede in der westlichen Presse – die Mehrheit der Beobachter glaubt aber, dass die chinesische Regierung rechtzeitig intervenieren würde.

Auch mitten in der Stadt gibt es riesige Baustellen.Ganze Quartiere werden abgerissen und stehen zum Teil dann doch noch recht lange Zeit zur Rest- und Zwischennutzung zur Verfügung. In meinem Quartier gibt es mehrere solche Abrissflächen. Die eine ist von einer alten Quartiermauer umgeben und deshalb leer;die andere, ein riesiges Areal, auf dem gemäss Plakat eine Siedlung namens King Side entstehen soll, ist offen.In den Bauruinen gibt es noch kleine Geschäfte und Handwerker, in Zelten haben sich Händler und ein improvisiertes Restaurant etabliert, und mehrere Altstoffsammler und -händler haben sich auf dem Gelände niedergelassen, durch welches sich quer eine holprige Piste schlängelt, auf der Autos, Scooter und Fussgänger unterwegs sind zu den älteren Wohnblocks am anderen Ende des Gevierts.

Vorher ...


... dazwischen ...


... nachher

Wo irgendwo ein Platz frei ist, eröffnet jemand ein Geschäft. Was legal ist und was nicht, ist schwer zu beurteilen. Die zahlreichen Strassenhändler und fliegenden Essensverkäufer, die seit Monaten manchmal das Trottoir in meiner Strasse fast unpassierbar machen, sind plötzlich verschwunden – vermutlich habe die Stadtverwaltung sie wegen Illegalität geräumt, wird vermutet. Zwei Wochen später erscheinen die ersten wieder.
Wird die Vitalität dieser Gesellschaft in den Neubauvierteln mit den meist 20-bis 30-stöckigen Hochhäusern verloren gehen? Schwer zu sagen. Bei den Satellitenstädten weit draussen und bisher ohne genügenden ÖV-Anschluss kann man sich pulsierendes Leben schwer vorstellen.



Bei den Vierteln in der Stadt ist schon von der Konzeption her ein Stück traditionelles Strassenleben berücksichtigt: Der Strasse entlang gibt es meist ein Sockelgeschoss für die unzähligen kleinen Geschäfte und Restaurants, wie es sie in den traditionellen Strassen gibt. Teils sind sie in den neuen Siedlungen gut belegt, teils stehen sie (noch?) leer. Und schliesslich gibt es noch die von aussen nicht sichtbare Möglichkeit, das bisherige Strassenleben im Hochhaus auch in die Vertikale zu kippen. So berichtet ein Bekannter, der vorher in einem Hochhaus wohnte, dass dort mehrere Bewohner in ihren Wohnungen Restaurants eröffnet hätten, so dass die in den Büros in den unteren Stockwerken Beschäftigten mit dem Lift essen gehen konnten – eine Interpretation des Hochhauses, die zwar durchaus im Sinn Le Corbusiers, aber wohl nicht unbedingt der chinesischen Behörden ist.

Was geht sonst verloren beim Abriss der alten Quartiere? Wenig wirklich alte Bausubstanz, die gibt es kaum. Der Grossteil auch der alten Quartiere scheint nicht sehr alt, die Umschlagzeiten für Bauten waren in China immer relativ kurz. Die Holzbauten mussten sowieso von Zeit zu Zeit erneuert werden, aber auch die meisten Steinbauten sind neueren Datums. Zwar gibt es in den ein- bis zweistöckigen alten Vierteln durchaus so etwas wie den Charme, den arme Viertel überall haben können, den Anforderungen an ein bequemes Leben können die Häuser aber kaum genügen. Vergleichbare Quartiere zu den Pekinger Hutongs, deren Restbestände jetzt renoviert werden, habe ich bis jetzt hier keine gesehen. Entscheidend für die Lebensqualität in Zukunft wird also sein, ob die Leute sich eine neue Wohnung leisten können und wie das soziale Leben dann aussehen wird. Ebenso wichtig wird die Lösung der Verkehrsprobleme sein; der Ausbau der U-Bahn dürfte hier die Hauptrolle spielen.


Auch dieses Quartier ist wohl ...


... dem Abbruch geweiht

Die neuen Hochhäuser sind in der Regel weder besonders schön noch besonders hässlich, die chinesischen Accessoires wie geschweifte Ziegeldächer über dem 25. Stock sind aus der Mode gekommen, da und dort gibt es postmodernen Schickschnack, meist dominiert schlichte Funktionalität. Eine Sehnsucht nach traditioneller Architektur (oder das Schielen nach Touristen?) befördert anderseits in vielen chinesischen Städten die „Rekonstruktion“ oder „Renovation“ von historischen Vierteln – die beiden Begriffe werden nicht genau unterschieden, meist ist es wohl weder das eine noch das andere, sondern ein modernes Viertel in altem Gewand. Man kann das in der sog. Pekinger Altstadt, im französischen Viertel von Shanghai oder hier in der Nähe des Südtors sehen, wo Papier- und Pinsel-Händler ihre Waren verkaufen in der Nähe des beeindruckenden Stelen-Museums, wo seit Jahrhunderten chinesische Klassiker, eingeritzt in Steinstelen, aufbewahrt werden. Ergänzend zur Hochhauskultur werden solche Viertel wohl vermehrt eine Rolle spielen, der Platzmangel wird aber die weitere Verdichtung in die Höhe erzwingen.

Das Viertel ist rekonstruiert ...


... der Papierladen aber ist ganz echt.

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