Mittwoch, 3. Dezember 2014
Disziplin?
Chinesen gelten als fleissig und diszipliniert bei der Arbeit und in der Schule. Aus der Nähe betrachtet bestätigt sich das Klischee nicht immer.

Im Alltag gibt es viele Bereiche, die tadellos genau und pünktlich funktionieren, wo also auch sehr viel Disziplin gefordert werden muss.Der Superschnellzug von Peking nach Shanghai z. B. fuhr gar eine Minute vor der Abfahrtszeit ab – wehe den knappen Fahrgästen. Im Strassenverkehr hingegen – ich habe es schon andernorts beschrieben – sind die Regeln ein unverbindlicher Rahmen, in dem sich die Stärkeren durchsetzen, die Schwächeren dafür umso unbekümmerter machen, was sie wollen. Polizisten und andere Verkehrsregler reagieren mit Pfeifen und allenfalls Schreien, weitere Konsequenzen haben die Regelverletzungen nicht. Mit Lautsprecheraufrufen wird in der U-Bahn versucht, diszipliniertes Verhalten zu erzeugen - der Erfolg ist mässig. Selten sieht man Schilder gegen das Spucken wie im Bahnhof von Wuhan (Bild unten) – auf der Strasse aber spucken Männer immer noch lautstark; es löst so wenig Reaktionen aus, wie wenn eine Mutter ihr Kleinkind in der U-Bahnstation auf den Boden pinkeln lässt – schliesslich sind die Kleinkinderhosen dafür unten offen. Kurz, im Alltag funktioniert China eher chaotisch, und alte dörfliche Verhaltensweisen mischen sich mit modernen.



In der Schule ist das nicht anders. Einerseits sind die Schülerinnen und Schüler immer pünktlich anwesend. Die Disziplin während der Stunde ist allerdings – wie überall – sehr unterschiedlich von Klasse zu Klasse und auch innerhalb der Klassen. Da wird auch viel zwischendurch geredet, und auch ziemlich laut, so dass der Geräuschpegel manchmal die Stimmen der Sprechenden verschluckt. Wer müde ist, legt den Kopf auf den Tisch; vor allem in der Mittelstufe (7.-9. Schuljahr) gibt es einzelne, die praktisch gar nicht aufpassen und nichts mitbekommen. Die Lehrerinnen und Lehrer reagieren darauf eher sanft. Zwar sieht man ab und zu Schüler, die an die Rückwand des Zimmers oder aus dem Zimmer auf den Gang geschickt werden, wo sie stehend warten müssen, und wer die Hausaufgaben schlecht macht, wird zurechtgewiesen, aber harte disziplinarische Sanktionen scheinen selten. Es werden zwar Anforderungen gestellt, Hausaufgaben erteilt und immer korrigiert und bewertet – diszipliniertes Verhalten hat nicht oberste Priorität.

Die Schule versucht, eine gewisse moralische und verhaltensbezogene Erziehung zu vermitteln. So heisst es im Gang:



Und diese Woche werden auf Tafeln vor dem Schulhaus einerseits (positiv!) Bilder von erfolgreichen Auslandaufenthalten von Schülerinnen und Schülern der Schule gezeigt ...



... anderseits (negativ!) aber auch mit zahlreichen Fotos der letzten Tage Verstösse gegen die Regeln angeprangert, welche ein schlechtes Bild der Schule abgeben:




Littering im Klassenzimmer ...


Nicht- oder nichtkorrektes Tragen der Schuluniform ...

...oder Essen ins Schulhaus bringen etc. Ob das etwas bringt? Zweifel sind angebracht. Einer meiner Schüler der 11. Klasse, der die Schuluniform nie trägt und deshalb eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen wurde, kommt auch nachher im gleichen, eher eleganten Outfit wie vorher. Auf meine Frage, wie das jetzt sei mit der Uniform, grinst er: „Ich mag das nicht“ und verweist auf eine Tasche, die er bei sich hat - da drin sei sie, er habe sie ja dabei.
Die Elite der chinesischen Jugend mag strebsam, ungeheuer fleissig und diszipliniert sein, die grosse Masse scheint, wie bei uns, manches zunehmend locker zu sehen.

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