Montag, 2. Februar 2015
Unfreiwilliger Epilog: Kafka war ein Realist
„Haben Sie beachtet, wie freundlich der Offizier zu uns war?“, sagte Ma Jiao, die Mitarbeiterin der Schule zu mir, als wir nach zwei Stunden das Büro verliessen. „Das ist ein gutes Zeichen.“ Dass Zeichen das einzige waren, was mir zur Beurteilung der Situation übrigblieb, musste ich bald begreifen.

Mein Flug von Xian nach Paris war auf nachts 1 Uhr terminiert. Alles war reibungslos gelaufen – der Transport zum Flughafen, das Einchecken (die nette Mitarbeiterin der chinesischen Airline hatte sogar den zu schweren Koffer durchgewinkt mit der Bemerkung, ich solle das nächste Mal besser schauen). Bei der Passkontrolle wurde mir bedeutet, mit dem Visum stimme etwas nicht. Ich holte meine Arbeitsbewilligung und die Kopie meiner temporären Niederlassungs- bewilligung aus dem Koffer und legte sie dem säuerlichen Beamten triumphierend hin. Der aber liess sich nicht beirren und rief einen Kollegen hinzu; dieser verschwand mit den Dokumenten und kam mit einem weiteren, offenbar höhergestellten, zurück, der schliesslich nach langem Hin und Her erklärte, ich könne nicht ausreisen. Weder mein Hinweis, dass ich ja gehen und nicht kommen wolle, noch meine Flüche auf Englisch und Schweizerdeutsch lösten die geringste Reaktion aus. Ein Anruf bei Ma Jiao und deren Gespräch mit den Beamten bewirkte ebenso wenig.
So stand ich um Mitternacht in der Halle des Flughafens, der eine Stunde weit weg von Xian liegt. Eine nette junge Dame der Airline, die für mich übersetzt hatte und der die ganze Geschichte furchtbar peinlich war, kümmerte sich anschliessend darum, dass mein Koffer zurückgeholt wurde und dass ich im Hotel am Flughafen ein vergünstigtes Zimmer erhielt. Ich schlief wenig und schlecht.

Am nächsten Morgen rief mich Ma Jiao an, sie komme zum Flughafen, wolle sich dort erkundigen, was das Problem sei, und hole mich dann ab. Um halb zehn teilte sie mir mit, sie warte immer noch, bis jemand erscheine; die Passkontrolle sei nicht besetzt, weil es zwischen acht Uhr und Mittag keine Auslandflüge gebe. Erst gegen Mittag kam sie, erklärte, es fehle mir offenbar ein Dokument; genau jenes,das sie im September mit mir hatte machen wollen (ich hatte dafür extra eine aktuelle elektronische Foto von mir machen lassen), das aber noch vor dem angesetzten Termin vom Amt für überflüssig erklärt worden war, da ich nur ein halbes Jahr in China bleibe. Nun musste das Ganze rekonstruiert werden, dafür musste ich mit ihr am Nachmittag auf das Ein- und Auswanderungsamt.

Dieses liegt etwa Dreiviertel Taxistunden von der Schule entfernt. In der Eingangshalle sassen und standen zahlreiche Wartende. Wir jedoch gingen an allen vorbei zum Lift und direkt in den 18. Stock, denn Ma Jiao hatte bereits am Vormittag alle ihre Beziehungen spielen lassen, insbesondere wertvoll sei ihre Tante, die irgendwo bei einem Amt arbeite und den hier zuständigen Abteilungsleiter kenne, so dass wir bevorzugt schnell behandelt würden. Ich hoffte am Abend via Peking fliegen zu können, so dass ich am nächsten Tag zu Hause wäre.

Im 18. Stock reihte sich Büro an Büro, jeweils von drei bis sechs Leuten an ihren Pulten besetzt, teils uniformiert, teils locker gekleidet. Die einen arbeiteten, die andern spielten mit ihren Handys. Wir setzten uns in ein Büro, in welchem verschiedene Menschen einen grossgewachsenen Mann an einem Pult bedrängten. Er hörte sich einen um den andern an, kopierte Ausweise und leitete sie in andere Büros weiter. Auch wir wurden in eines geschickt, wo ein Beamter sich zuerst lange mit Ma Jiao besprach, bevor der junge Offizier ins Spiel kam und uns übernahm. Dieser erstellte schliesslich ein Protokoll, das Ma Jiao mir übersetzte; ich musste unterschreiben und alle Zahlen und Namen mit einem roten Fingerabdruck beglaubigen. Im Büro mit vier Pulten - drei Männer, eine Frau -, das wie viele Räume hier ein wenig schmuddlig war, herrschte eine ruhige Stimmung, auch hier eine Mischung von Handy und Arbeit, ab und zu klingelte das Telefon. Da nun ein anderer Beamter mit Ma Jiao ein Protokoll erstellte,hatte der freundliche junge Offizier Zeit, mir nach rund 17 Stunden Verwirrung ansatzweise das Problem zu erklären: aufgrund eines Fehlers hätte ich seit Monaten quasi illegal in China gelebt, denn die Zahl 000 auf meinem Visum bedeute eigentlich 30, die Gültigkeit sei also nur 30 Tage. Das musste jetzt ausgebügelt werden (dazu gehört auch eine Busse für die Schule). Anschliessend wollte er – er konnte leidlich Englisch - mit mir über die Schweiz plaudern und dies und das wissen.Am Ende des Nachmittags war klar, das würde heute nicht fertig.

Ma Jiao hatte den Auftrag, eine ausführliche Darstellung der Schule einzureichen. Die würde sie in der Nacht machen und am nächsten Morgen sofort bringen. Die Schwierigkeit bestehe darin, erklärte sie mir, dass wir drei Unterschriften von drei Ebenen bräuchten. Das könne, wenn die Herren gerade im Büro seien, sehr schnell gehen, oder eben auch nicht. Normalerweise würden solche Fälle ein bis zwei Wochen dauern – ich erstarrte; aber dank der verschiedenen Beziehungen hätten sie zugesagt, es schnell und reibungslos zu erledigen – ich hoffte also auf den nächsten Tag: das war Freitag, dann kam das Wochenende ... Zwanzig Stunden, nachdem ich sie verlassen hatte, sass ich nun wieder in meiner geputzten leeren Wohnung mit zwei offenen Koffern und versuchte mich vom Schock zu erholen.
Den Freitag Morgen verbrachte Ma Jiao auf dem Amt. Es habe leider nichts genützt, berichtete sie am Nachmittag, sie sei den Beamten auf die Nerven gegangen, das sei eher kontraproduktiv, deshalb sei sie zurückgekommen. Es bleibe nichts, als über das Wochenende zu warten. Wir reservierten einen Flug für Montag abend. Die Schweizer Botschaft in Peking, die ich unterdessen angerufen hatte, erklärte mir freundlich, dass sie nichts für mich tun könne, denn in Visa-Angelegenheiten seien die Chinesen strikt. Der noch freundlichere Herr auf der chinesischen Botschaft in Bern fand die Angelegenheit auch komisch; nachdem er sich bei Ma Jiao kundig gemacht hatte, glaubte auch er, dass eine Intervention der Botschaft via das Aussenministerium in Peking die Behörden hier eher bockig machen könnte und wohl nichts zur Beschleunigung beitragen würde.

Also Wochenende. Bei der Verkürzung halfen am Samstag ein amüsantes Konzert der Pekinger Philharmonie und am Sonntag ein Nachtessen bei einer jungen Kollegin zu Hause, deren Vater sich und mir ausdauernd Schnaps nachschenkte.

Heute Montag Mittag berichtete Ma Jiao, dass die Unterschriften von zwei Ebenen erreicht seien, bevor die dritte gegeben werde, müsse aber noch der Direktor der Schule zum Amt und seine Einvernahme protokolliert werden. Es reiche also auch heute leider nicht. Übermorgen ist der wichtigste Anlass des Jahres für meine Frau, auf den hin meine Rückreise terminiert war: Sie wird als Grossratspräsidentin ihre Antrittsrede halten und am Abend gefeiert. Den Vormittag hab ich mal schon verpasst. Ich hoffe also unruhig auf morgen – mit 80-90% Sicherheit sei die Sache morgen erledigt, sagt Ma Jiao. Ein anderes Zeichen habe ich nicht.


P. S. Typisch China? Ich weiss es nicht. Vermutlich könnte man in vielen Ländern, auch in Europa, ähnliches erleben. Immerhin: Im Gegensatz zu Russland, wo ich vor ein paar Jahren auf der Polizei nur angebrüllt wurde, weil ich bestohlen worden war, waren alle involvierten Personen korrekt oder sogar freundlich (bis jetzt ...).

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