Mittwoch, 17. September 2014
Eine chinesische Mittelschule
Die Xian Foreign Language School affiliated to Xian International Studies University – so heisst der offizielle Name auf Englisch – liegt in einem Wohnquartier nördlich des Zentrums von Xian, umgeben vom üblichen Trubel, der in solchen Quartieren herrscht: unzählige Läden, Restaurants, auf den Strassen werden Nahrungsmittel und alles mögliche sonst verkauft, Hochhäuser zwischen älteren niedrigeren Wohn- und Gewerbehäusern, enge „Essgassen“ und breite Autostrassen. Eine Primarschule und eine Mittelschule für die Schuljahre 7 bis 12 – insgesamt etwa dreitausend Schülerinnen und Schüler. Die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler wohnen während der Woche auf dem Schulareal zusammen mit Betreuungslehrpersonen, die nicht unterrichten; in drei Häusern im Hof nebenan wohnen auch Lehrpersonen, manche sind pensioniert, manche leben nur unter der Woche hier. Es sind geräumige 3-Zimmerwohnungen, ich habe eine im 5. Stock (ohne Lift) – junge Lehrerinnen und Lehrer, die zu weit weg wohnen, teilen sich durch die Woche eine solche, teils bis zu dreizehn in einer Wohnung, die mit Doppelstockbetten gefüllt ist, dafür müssen sie nur den Strom bezahlen; bei weniger als umgerechnet 500 Fr. Monatslohn ist das willkommen, ebenso wie das günstige Mensa-Essen, das 30 bis 50 Rp. kostet, und für das man Schalen und Besteck selber mitbringen muss.



Sowohl das Schulareal wie der Hof mit den Wohnblöcken der Lehrer ist abschliessbar, wie das in China üblich ist. Am Eingang zum Areal mit den drei Wohnhäusern sitzt ein rundlicher Portier in einem Kabäuschen, meist ist die Frau dabei und ein paar Leute, die hier für einen Schwatz vorbeikommen; bei schönem Wetter sitzen alle draussen. Um elf Uhr abends schliesse er das Tor; wenn man später komme, könne man versuchen ihn durch Rufen zu wecken, sonst gehe es um sechs wieder auf.

Gleich nebenan beim Eingang zur Schule, den Sportplätzen und Schülerhäusern hat es eine richtige Portierloge neben der abschliessbaren Einfahrt. Am Donnerstag vor Schulbeginn ist noch nicht viel los, Bauarbeiter sind mit dem Ausbessern des Bodenbelags beschäftigt. Auf einem Plakat sind die Resultate der Absolventinnen und Absolventen der nationalen Prüfungen, die über den Hochschulzugang entscheiden, aufgelistet. Der beste Absolvent erreichte 650 Punkte, das ist gut, aber für die Aufnahme in eine Eliteuni hat es keinem gereicht, da bräuchte man 690-700 (von750) – das ist hier keine Eliteschule. Eine Deutschlehrerin zeigt mir das Schulhaus. Ein Abteilungsleiter in einem kleinen Büro beim Eingang begrüsst mich freundlich, kann allerdings keine Fremdsprache („language is power“ steht auf einem Plakat vor der Schule, allerdings ist auch die chinesische Sprache ausdrücklich genannt); er hat ein Pult in einem der kleinen Lehrerzimmer für mich bestimmt. Er scheint der einzige im Haus zu sein. Die Schulzimmer sind nach zwei Monaten Ferien noch staubig, nichts deutet auf den bevorstehenden Anfang hin. Ich soll am Montag wieder kommen, heisst es. Der Stundenplan sei auch noch nicht vorhanden. Am Samstag werde ich per SMS darauf aufmerksam gemacht, dass mein persönlicher Stundenplan noch nicht gemacht sei, die erste Woche könne ich nutzen, um den Unterricht bei anderen Deutschlehrern (es sind sechs Frauen, die meisten jung, zwei davon schwanger) zu besuchen und die Schüler kennenzulernen.


Das Schulhaus der Mittelschule (24 Klassen 7.-9., 12 Klassen 10.-12. Schuljahr). Der Sportplatz ist asphaltiert und bemalt.

Am ersten Schultag ist dann grosser Betrieb, die Portiers am Eingang tragen Uniform, einer sogar zeitweise einen Helm. Sie kontrollieren, wer hinein und wer hinaus will – nicht alle Schüler dürfen z. B. am frühen Abend hinaus, manche werden zurückgehalten, andere schleichen grinsend an der Kontrolle vorbei. Zu erkennen sind sie leicht an der „Schuluniform“, die aus einem Trainingsanzug besteht. Im Schulhaus überall Unterricht bei meist offenen Türen – das ganze Schulhaus summt wie ein Bienenstock, vor allem, weil in vielen Klassen im Chor wiederholt wird, was der Lehrer sagt; Lehrerinnen haben nicht selten ein Mikrofon, wenn sie vor 40-50 Schülerinnen stehen. Der Umgang zwischen Lehrpersonen und Schülern ist eher informell. Die Klassen sitzen recht diszipliniert auf kleinen Hockern an kleinen Tischchen in den engen Räumen; es können wie gesagt bis 50 Schülerinnen und Schüler pro Klasse sein, in den Spezialfächern wie Deutsch gibt es aber auch ganz kleine Klassen von sieben oder gar drei. Der Geräuschpegel während der Lektionen ist teilweise recht hoch, manchmal, weil die Schüler untereinander reden, manchmal, weil vom Gang oder vom Sportplatz der Primarschüler Gekreisch zu hören ist – der Lärm scheint die Konzentration aber wenig zu beeinträchtigen. Ansonsten das übliche Bild von Unterricht: einige sind sehr eifrig, die meisten aufmerksam, einzelne hängen eher in den Seilen.



Das Schulhaus ist für Schweizer Verhältnisse arg heruntergekommen, gewöhnungsbedürftig sind vor allem die wie an einem Bahnhof zum Gang hin offenen WC-Abteile auf jedem Stockwerk, aus denen ein zeitweise penetranter Pissegeruch auf den Gang dringt (auch die WC-Abteile im Inneren sind nur durch halbhohe Wände getrennt, Türen gibt es nicht). Auf jedem Zwischenboden des fünfstöckigen Treppenhauses ist ein grosser Merkspruch auf einem blauen Tafelbild aufgehängt, auf chinesisch und englisch:
„Be polite, friendly, honest and reliable“, heisst es da. „Cherish our health, beautify our environment and love our school“ und „Study diligently and hard: devote ourselves to our study. And develop ourselves in all aspects.“ Weiter werden grosse Männer wie Lincoln oder Bacon („Knowledge is power“) zitiert, oder der vor bald zwanzig Jahren verstorbene grosse chinesische Modernisierer und Staatsmann Deng Xiao Ping: „Educational undertakings must serve the needs of modernizations, face the world and look into the future.“ Schliesslich – natürlich – Konfuzius, mit einem allerdings erstaunlichen Zitat: „By asking we learn. It’s wise to announce one’s comprehension and to admit one’s confusion.“ Erstaunlich deshalb, weil er hier – vor 2500 Jahren – etwas fordert, was nach allgemeiner Ansicht vielen Chinesen auch heute noch schwerfällt: zuzugeben, dass man etwas nicht verstanden hat, und zu nachzufragen, das heisst auch selbständig zu denken. Das Zitat zeigt, wie wenig Konfuzius auf eine Formel reduziert werden kann, wie komplex sein Denken ist, es zeigt aber auch etwas vom Geist dieser Schule – der Rektor hat das Zitat bewusst ausgewählt.



Im Schulhaus hat man nicht den Eindruck von Stress und Hektik, obwohl die Schüler sehr lange Präsenzzeiten haben, manchmal abends bis 21 Uhr. Die Lehrpersonen sitzen tagsüber, wenn sie nicht Stunden haben, in ihren Büros, auch sie haben eine grosse Präsenzzeit, sind aber immer mal wieder auch nicht da oder mit ihrem Handy beschäftigt oder schlafen am Pult. Zehn bis 25 Wochenlektionen sind zu unterrichten neben Hausaufgabenaufsicht. Das ist je nachdem, was dazukommt, viel oder auch nicht so viel. Zwei Schülerinnen und ein Schüler der Abschlussklasse, mit denen ich am Freitag nach der Schule etwas trinke, klagen über die strenge Schule, die sie täglich bis neun Uhr abends mit Hausaufgaben traktiere und auch übers Wochenende, sie glauben, die Schüler in der Schweiz hätten es viel schöner. Alle drei waren schon mal in Deutschland, in den Ferien oder in einem Austausch. Sie schwärmen von England, USA, Deutschland, möchten gern einmal nach Hongkong gehen.

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