Montag, 22. September 2014
Leben in Xian: Velofahren und anderes
Im Museum

Museen in China sind, wenn man eine Identitätskarte zeigt, meist gratis, Spezialausstellungen, auch manche historischen Stätten wie die zu Museen umfunktionierten Wohnhäuser von bedeutenden Chinesinnen und Chinesen wie Lu Xun (Schriftsteller), Sun Yat-Sen (erster Staatspräsident der Republik 1912), Mao, Chou En-Lai, Song Qiling (Frau von Sun Yat-Sen und wichtige Figur im kommunistischen China) sind nur teilweise gratis, teilweise kosten sie etwas.
Besuch im historischen Museum der Provinz Shaanxi in Xian. Sonntag, viele Leute, alle Altersklassen. Eindrückliche Objekte von 5-6000 v. Chr. bis zur Qing-Dynastie (besonders schöne Tang-Keramik) illustrieren das beeindruckende Alter der chinesischen Kultur, das im heutigen China wieder stark betont wird. Das Museum wurde 1991 eröffnet als „Erziehungsbasis des Patriotismus“ und war das erste „Demonstrationsmodell für die moralische Erziehung der Heranwachsenden“ in der Provinz, so eine Tafel am Eingang. Ein Student hat mir am Tag zuvor als freiwilliger Propagandist im Stadtzentrum empfohlen dahin zu gehen. Zwar würden viele Einheimische es besuchen (10 Millionen hätten es bis jetzt besucht, heisst es auf der erwähnten Tafel), aber die Fremden noch nicht. Er ist heute vor dem Museum, sieht mich und ist sehr erfreut, dass ich seiner Empfehlung gefolgt bin.

Teambuilding



Nachmittags halb sechs auf dem breiten Trottoir einer Hauptstrasse stehen etwas achtzehn Angestellte eines Restaurants in zwei Reihen, militärisch exakt, hinten die Köche, mit einer Ausnahme Männer, vorne die Serviceangestellten, alles Frauen, alle in Arbeitskleidung. Vorne stehen die Chefin des Service und der Chef des Ganzen, der einzige mit Krawatte. Zuerst redet die Chefin, alle klatschen, dann redet der Chef; er schliesst mit Parolen, die mit kollektiven Rufen beantwortet werden, dazwischen wird gelacht, alle klatschen wieder. Nun wirft der Chef einen Stoffball in die Runde und während der folgenden Viertelstunde wird auf dem Trottoir mit viel Gelächter und Gekreisch „Völkerball“ gespielt, immer Service und Chef gegen Köche, dazwischen wird gewechselt. Kurz vor sechs pfeift der Chef, alle sammeln sich wieder, nochmals kurze Ansprache, nochmals ein paar Parolen und Antwortrufe, Strammstehen, dann geht es in Zweierkolonne ins Restaurant im 1. Stock des Gebäudes dahinter. Eine Stunde später wollte ich dort essen gehen – es war überfüllt, am Eingang standen die Leute Schlange.
Ähnliche Appelle“ sieht man auch anderswo ständig, allerdings ohne Ballspiel. Manche machen Tanzbewegungen oder andere Bewegungsübungen, besprechen sich im Kreis wie eine Fussballmannschaft vor dem Match oder müssen sich in Zweierkolonne einfach die Ansprache des Chefs/der Chefin anhören.



Velofahren


Zwar ist China nicht mehr das Land der Fahrräder wie vor zwanzig Jahren. Auch hier scheint es ein ehernes Gesetz, dass wirtschaftliches Wachstum sich im Auto ausdrückt. Und so stehen jetzt halt auch die Chinesen im Stau und suchen sich einen Parkplatz, wo es keinen gibt, und halten das für Fortschritt. Immerhin haben die Behörden reagiert und bauen in rasantem Tempo einerseits ein Hochgeschwindigkeits U-Bahnen. Peking hat in wenigen Jahren das längste U-Bahnnetz der Welt in den Boden gegraben und baut weiter, in Xian gibt es seit etwa drei Jahren zwei Linien in Form eines Kreuzes, drei weitere sind im Bau.
Und immerhin hat Xian wie viele andere chinesische Städte nach dem Vorbild mancher europäischer Städte ein praktisches Veloverleihsystem errichtet. Mit gut 40 Fr. Depot erwirbt man sich das Recht, mit seiner ÖV-Karte (U-Bahn und Bus) ein Velo zu nehmen an einer der Stationen, die sich alle paar hundert Meter finden, und es an einer beliebigen anderen Station wieder zu deponieren. Die erste Stunde ist gratis, die zweite kostet 15 Rp., und auch nachher ist es nicht viel teurer. Es sind eher behäbige, einfache Räder, aber so, wie der Verkehr hier läuft, kann man ohnehin nicht schnell fahren, und Gänge sind hier, wo es topfeben ist, auch nicht nötig - immerhin kann man den Sattel verstellen und es hat ein Kabelschloss dran. Das System wird gut genutzt, ein beträchtlicher Anteil der Velofahrer, die man sieht, sind mit solchen Rädern unterwegs, daneben gibt es viele alte Klappergestelle, seltener Mountainbikes, noch seltener elegante Fixies.

Velofahren ist auch hier ein Vergnügen, allerdings ein beschränktes, und das nicht nur, weil man oft nur langsam vorankommt. Das liegt zum einen an der Verkehrsdichte. Auf den grossen Strassen ist man auf separaten Spuren eigentlich bequem unterwegs, aber da fahren auch die zahlreichen lautlos dahinflitzenden Elektorscooter - solche mit Benzinmotoren sind nicht mehr erlaubt, und auch die klapprigsten alten Modelle sind auf elektrischen Antrieb umgerüstet; dasselbe gilt für die dreirädrigen Rikschas, die zur Personenbeförderung, zum Warentransport und von fliegenden Händlern benutzt werden. Auch einzelne Autos nutzen die Spur bei Stau mal als Ausweichmöglichkeit, so wie Scooter und Velos im selben Fall auf Trottoirs ausweichen. In kleineren Strassen, wo die Radstreifen nur aufgemalt sind, gibt es zahlreiche stehende Hindernisse, vor allem Autos, die hier ungeniert parkiert werden, oder sie sind an dichten Stellen von Fussgängern überflutet.

Zum andern wird das Vergnügen dadurch beeinträchtigt, dass die Verkehrsregeln durch das Recht des Stärkeren überlagert werden (allerdings nehmen auch die Schwachen sich ihr Recht, wo sie können). Autos kommen zuerst, auch auf Fussgängerstreifen bei Grün haben die Fussgänger auszuweichen oder stehenzubleiben, wenn ein Autofahrer abbiegen will. Aber auch die Elektroscooter, die zwar vor den Autos kuschen müssen, nehmen sich viele Rechte, wenn sie lautlos und nachts ohne Licht herumflitzen. Die Velofahrer halten sich an fast gar nichts, fahren auch auf dem Trottoir, haben aber nur eine sanfte Klingel, keine Hupe wie die Scooter und Rikschas, die sich damit den Weg bahnen. Die Fussgänger schliesslich rebellieren, indem sie überall sich durchzuschlängeln versuchen, auch bei Rot über eine sechs- oder achtspurige Strasse. Darauf wiederum reagieren die Autofahrer weniger mit Bremsen als mit Hupen. Als Velofahrer dem ständigen Gehupe ausgesetzt zu sein, ist an sich nicht schlimm, schwierig wird es an grossen Kreuzungen, die man ja auch als Velofahrer irgendwie überqueren muss und wo man mit all den genannten Phänomenen gleichzeitig konfrontiert wird – da helfen einem Velostreifen wenig.

... comment