Donnerstag, 2. Oktober 2014
Hartes Schülerleben
Ob die Chinesen wirklich härter arbeiten als wir im alten Europa, wie oft suggeriert wird, ist generell schwer zu beantworten. Wie bei uns gibt es grosse Unterschiede. Wenn man hier lebt, gewinnt man den Eindruck, dass zwar einerseits viele Leute geschäftig sind - z. B. im Auftrag Trottoirs wischen oder auf eigene Rechnung wiederverwertbaren Abfall sammeln, was zu sehr sauberen Strassen und Trottoirs führt trotz enormem Publikumsverkehr. Anderseits gibt es überall, in den Geschäften und in andern Einrichtungen, viele unterbeschäftigt herumsitzende Leute, Aufsichts- und Wachpersonal,wie es für Entwicklungsländer typisch ist, und als solches bezeichnet auch die chinesische Regierung ihr Land immer noch. Was man natürlich nicht sieht, sind die, welche in Fabriken und auf den riesigen Baustellen arbeiten. Ein älterer Amerika-Chinese, in Kalifornien aufgewachsen, der seit zehn Jahren in Xian lebt und arbeitet und täglich zwei Stunden im Fitnesszentrum verbringt, hält das Leben hier jedenfalls für viel entspannter als in den USA, darum lebe er gern hier.

Was aber zweifelsfrei feststeht: Schüler haben ein hartes Leben in China. In „meiner“ Schule beginnt um 7.25 ein 25-minütiger Frühunterricht, wo in täglich wechselnden Fächern kleine Übungen, Diktate o. ä. gemacht werden. Dann versammelt sich, wenn es nicht regnet, die ganze Schule auf den Sportplätzen zum etwa eine Viertelstunde dauernden Frühsport – eine Mischung aus militärischen Marsch- und Turnübungen und Tai-Chi-Bewegungen (im Winterhalbjahr wird diese Sequenz zwischen die 3. und 4. Lektiom nach 10 Uhr verlegt). Etwa 1'500 Primarschüler bewegen sich zu Marsch- und Popmusik auf dem grossen Sportplatz nach dem Kommando eines Sportlehrers, die Mittelschule teilt sich auf zwei kleinere Sportplätze auf.


Frühsport

Ab 8 Uhr 15 folgen fünf 40-minütige Lektionen, unterbrochen von 10-minütigen Pausen. Von 12.15 bis 14.20 ist Mittagspause. Man kann in der Mensa essen oder nach Hause gehen, wenn man in der Nähe wohnt. Viele gehen auch ins Quartier, um sich zu verköstigen. Dann folgen vier Nachmittagslektionen, anschliessend nochmals eine halbe Stunde Abendunterricht, wo wie am Morgen kleinere Einheiten geübt werden. Nach dem Abendessen gibt es von 19.10 bis 20 und von 20.10 bis 21 Uhr nochmals zwei Stunden für diejenigen, die in der Schule wohnen – hier werden Aufgaben erledigt und wird nachgeübt; wer zuhause wohnt, kann das dort erledigen. Dieser Tagesplan bedeutet natürlich auch eine starke Belastung für die Lehrpersonen, die während des Unterrichts in der Schule sein müssen, wo sie einen Arbeitsplatz zur Vorbereitung und Korrektur haben und wo Schülerinnen und Schüler sie auch für Fragen aufsuchen.

Das Ganze an fünf Tagen die Woche (nur am Freitag ist um fünf Schluss). Und auch übers Wochenende gibt es noch Hausaufgaben. Und wenn - wie jetzt wegen des Nationalfeiertags, wo eine Woche frei ist - ein paar Tage ausserhalb der Ferien ausfallen, dann werden sie teilweise am Sonntag vorher und am Samstag danach vor- und nachgeholt! Ausserdem müssen die 9. und 12. Klassen, welche am Jahresende Prüfungen haben, oft am Sonntag für Zusatzunterricht zur Schule kommen, ganztags! Kein Wunder, dass viele Schüler über eine zu hohe Belastung klagen. Auch Primarschüler sieht man nach acht Uhr abends noch im Schulzimmer mit Aufgaben oder Nachhilfeunterricht. Ein Junge, der seit zehn Jahren Klavier spielt, sagt, er komme nur noch am Wochenende zum Üben. Und doch ist das keine Eliteschule, die hauptsächlich auf die Prüfungen trimmt. In der „besten“ Schule von Xian, d. h. der, die bei den grossen nationalen Abschlussprüfungen Gaokao am besten abschneidet und als halbprivate Schule auch viel besser ausgestattet ist, hat man den Eindruck, es werde noch viel mehr gefordert – jedenfalls hat die Schule es für nötig befunden, einen Erholungs- und Kompensationsbereich einzurichten, wo es neben Spielen auch lebensgrosseDummypuppen gibt, auf die man einschlagen kann.

Die guten Leistungen werden auch an „meiner“ Schule gelobt, aber nicht so stark in den Vordergrund gestellt. Am Freitag Nachmittag der dritten Schulwoche versammelte sich die ganze Mittelschule auf dem Sportplatz vor der Schule. Ein Transparent vorne über der Tribüne, wo die Schulleitung sass, enthielt die Ziele der Schule, u. a. Internationalität.
Schüler und Lehrpersonen sasseneinigermassen in Reih und Glied auf den aus dem Schulhaus mitgebrachten Hockern. Etwa 20 LP und 150 SuS standen während der ganzen Zeremonie von mehr als einer Stunde am Rand – die Lehrpersonen wurden ausgezeichnet für besondere Beiträge zum Unterricht, die Schülerinnen und Schüler für die besten Leistungen sowie – bemerkenswert - auch die grössten Fortschritte während des letzten Schuljahres.


Auszeichnungen zum Schuljahresbeginn

Der Druck auf die Schüler manifestiert sich nicht in autoritärem Unterrichtsstil, die Lehrpersonen – da es eine Schule mit Schwerpunkt Sprachen ist, in der Mehrzahl Frauen – gehen eher sanft mit ihnen um. Der Druck auf Schüler und Lehrpersonen geht letztlich von den Abschlussprüfungen aus. Am Ende der Junior High School (7.-9. Klasse) entscheidet eine Prüfung an der Schule, wer in die 10. Klasse aufgenommen wird. Etwa die Hälfte besteht, die andern müssen sich eine andere (weniger gute) Schule suchen - Berufslehren gibt es nicht. Der grosse Endpunkt der Schulkarriere aber schwebt über allem: am Ende der 12. Klasse entscheidet die grosse nationale Prüfung (Gao kao), die provinzweise abgeändert werden kann, wer in eine Universitätaufgenommen wird, und wenn ja, in eine wie renommierte. Auch hier besteht etwa die Hälfte der bis zehn Millionen, die jährlich daran teilnehmen – die andern können es entweder nochmals versuchen oder eine Arbeit suchen.
Es scheint, dass ein solches System auf die Schule zurückstrahlt und dort möglichst viel Unterrichtszeit und möglichst viel Auswendiglernen fördert. Das legt jedenfalls der Vergleich mit dem sonst ganz anderen Land Chile nahe, das eine ähnliche nationale Schlussprüfung kennt und wo auch 44 Lektionen Unterricht pro Woche vorgeschrieben sind. Der Unterschied: In Chile wurde das System unter der Pinochet-Diktatur als neoliberales Anreiz-Modell eingeführt (die Resultate der Schulen werden, anders als in hier in China, in der Zeitung veröffentlicht), in China hingegen haben nationale Prüfungen und die Reproduktion von angelerntem Wissen eine zweitausendjährige Tradition; sie dienten im Kaiserreich der Rekrutierung von Beamten und Gelehrten und führten in den Blütezeiten einiger Dynastien wirklich dazu, dass China verglichen mit andern Weltgegenden besser regiert wurde. Umso schwieriger dürfte es werden, das heutige System einmal umzukrempeln, auch wenn es erste Stimmen gibt, die das möchten.

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Lebensgrosse dummies
Dieses Detail ist interessant. Irgendwo in der paramilitärischen Kultur von Frühsport und Einschwören auf die Mission (Restaurantcrew) scheint ein Niesche für die verdrängte Aggression und auch das Spielerische (Völkerball) zu existieren. Irgendwie bringen wir das aus unserer Perspektive nicht so richtig unter einen Hut.
Liebe Grüsse nach Xian ueli

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