Montag, 15. September 2014
Xian

Glockenturm Xian

Xian zählt sich in den Tourismusprospekten zusammen mit Kairo, Rom und Athen zu den ältesten Kulturstädten der Welt. Tatsächlich liegt es sozusagen im Herzen der chinesischen Kultur und war – lange unter dem Namen Chang’an (langer Friede) und zunächst etwas versetzt gegenüber der heutigen Stadt – zwischen dem 11. Jahrhundert v. Chr. und dem 10. n. Chr. immer wieder Hauptstadt, insgesamt während rund tausend Jahren, zunächst eines Zhou-Königreichs, dann ab 221 v. Chr. des neuen Kaiserreichs, bis dann die Hauptstadt zunächst nach Süden (Nanjing: südliche Hauptstadt) und schliesslich nach Norden (Beijing: nördliche Hauptstadt) verlegt wurde und Xi’an (westlicher Friede) seinen heutigen Namen bekam. Als Hauptstadt und Ausgangspunkt der Seidenstrasse dürfte es während längerer Perioden, vor allem im 1. Jahrtausend n. Chr., jeweils die grösste Stadt der Welt gewesen sein. Die heute immer noch fast vollständige, imposante Stadtmauer geht auf das 7. Jh. n. Chr. zurück und erhielt ihre heutige Gestalt in der Zeit der Mingdynastie (europäisches Mittelalter). Sie umschliesst als 14.5 km langes Rechteck eine riesige „Altstadt“, in der allerdings nur mehr wenige alte Gebäude erhalten sind. Die wie in allen historischen Städten Chinas schachbrettartige Anlage mit den vielen Häusern aus den letzten Jahrzehnten und den Hochhäusern ergibt das Bild einer modernen Allerweltsstadt. Verstreut liegen die wenigen historischen Relikte wie der zentrale Glockenturm und der Trommelturm (beide aus der Mingzeit) oder das dahinter liegende historische Muslimviertel, in dem eine mehr als 1200 Jahre alte Moschee in der Gestalt eines chinesischen Tempels von der Integrationskraft der chinesischen Kultur zeugt.


Blick über eine Allerweltsstadt?

Wenn Xian heute ein touristisches Highlight ist, dann nicht wegen der erwähnten historischen Relikte, zu denen ausserhalb der Mauer noch die kleine und die grosse Wildganspagode (ebenfalls gut 1200-1300 Jahre alte Relikte der Tang-Dynastie) kommen, sondern wegen des Grabmals des ersten Kaisers Qin Sihhuangdi. Der brutale, aber als Einiger Chinas gefeierte Herrscher hatte sich ein ganzes Heer anfertigen lassen und sie neben lebendigen Menschen ins Jenseits mitgenommen. Seit in den 1970er Jahren diese riesige Armee von Terraccotta-Kriegern ausgegraben worden ist und als eine der grossen archäologischen Sensationen weltweite Aufmerksamkeit erregt hat, gehört sie zu den Pflichtprogrammen von China-Reisen. Noch birgt der Lössboden der Umgebung von Xian zahlreiche weitere Schätze, die z. T. bewusst nicht ausgegraben werden, weil man hofft, vorher bessere Konservierungsmethoden zu finden, damit nicht die Farben wie bei den bisherigen Ausgrabungen sofort zerfallen. Bis jetzt verleiht die gelbgraue Schlichtheit den lebensgrossen Terracottakriegern mit ihren individualiserten Gesichtern eine sozusagen klassische Aura, und man kann sich die Farben ähnlich schlecht vorstellen wie an den griechischen Statuen.


Auf der Stadtmauer

Eine mittlere chinesische Stadt also, vier Mio. Einwohner, mit der Metropolitanregion sind es acht Mio. Diejenigen, welche in der Schweiz, wo man sich in Wohnquartieren auf der Strasse meist ziemlich einsam vorkommt, das Wort Dichtestress erfunden haben, würden sich hier wundern. Auch hier gibt es Staus, selbst wenn die Strassen mitten in der Stadt acht Spuren haben. Vor allem aber gibt es fast überall, besonders in den öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Rolltreppen und Trottoirs viele, manchmal sehr viele Menschen. Das ist hier allerdings nicht neu; man nimmt an, dass Xian
spätestens während der Tang-Dynastie – in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends – als es in Europa keine Städte (mehr) gab, eine Million Einwohner hatte. So nimmt man hier die Dichte gelassen und bewegt sich meist geschickt, so dass es kaum Zusammenstösse gibt. Wird man trotzdem mal angestossen, so weicht der andere sofort zurück, eine Entschuldigung gibt es so wenig, wie sie im umgekehrten Fall erwartet wird, aber auch keine bösen Blicke. Merkwürdig ist, dass sich hier an den Bushaltestellen sofort Schlangen wie in England bilden, während in der U-Bahn, wenn es viele Leute hat, trotz Markierung und ständiger Aufforderung durch Lautsprecher, die Wartenden schnell hineinzudrängen beginnen, während die Aussteigenden um so mehr drängen müssen, um herauszukommen. Ob es daran liegt, dass es die U-Bahn hier erst seit ein paar Jahren gibt?
Im Quartier nördlich der Altstadt, wo ich wohne, gibt es den üblichen Mix von älteren Gebäuden und neueren Hochhäusern, die Strassen sind teils sehr belebt, unzählige Läden und Restaurants, Strassenverkäufer, enge Essstrassen, wo man Nahrungsmittel und fertige Gerichte von festen oder mobilen Händlern erwerben kann. Auch wo die neuen rund 30-stöckigen Wohnhäuser stehen, ist das Strassenbild nicht viel anders, weil zur Strasse hin auch hier wieder ein Trakt mit den typischen schmalen, tiefen Kleinläden gebaut wurde. Verlaufen kann man sich kaum, weil auch hier das rechtwinklige Strassenmuster weitergeführt wurde, ob man je den Stadtrand erreichen würde zu Fuss ist allerdings fraglich – wenn man eine halbe Stunde geht, sieht es immer noch gleich aus und die Strasse heisst auch noch gleich.

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4:0 in Winterthur
Habe mit viel Genuss und Interesse gelesen. Manchmal vergessen wir einfach, dass all das, was wir hier für unabdingbar halten, z.b. In der Schule, gar nicht systemgegeben ist, sondern kulturabhängig.
Liebe Grüße ueli

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Dichtestress
Trotz Dichte kein Stress in China. Daran ändert wohl auch die zunehmende Anzahl der Kollisionen nichts, da auch in China immer mehr Leute ihren Blick auf dem Handy haben.

Vielen Dank für die interessanten Texte. Ideal für Zugfahrten! Thomas

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Gute Zeit
Danke für die schönen Texte.Bei meinen Schulbesuchen in China schien es mir immer, als sei das Verhältnis der Leherdeputate pro Schüler etwa gleich wie in der Schweiz - nur dass die Zahl der Schüler pro Klasse etwa doppelt so gross ist, aber die Pflichtlektionen deutlich tiefer sind als bei uns. Das waren aber immer Vorzeigeschulen. Ob das in deiner etwas heruntergekommenen Schule auch so ist? Gute Zeiten und herzliche Grüsse aus dem mitteleuropäischen Indian Summer, Hans Georg

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